Ottmar Miles-Paul ist ein bekannter Aktivist in der deutschen Behindertenbewegung und engagiert sich seit über 30 Jahren für die Rechte und Interessen von Menschen mit Behinderungen. Er hat maßgeblich zum Aufbau des Behindertenverbandes „Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL)“ beigetragen, der sich für die Selbstbestimmung und Inklusion von Menschen mit Behinderungen einsetzt.
Als Publizist arbeitet Ottmar Miles-Paul beim Online-Nachrichtendienst kobinet-nachrichten, wo er über aktuelle Entwicklungen, Erfolge und Herausforderungen in der Behindertenbewegung berichtet.
Zudem war er an der Ausarbeitung des ersten Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland beteiligt.
Ein weiterer wichtiger Beitrag von Ottmar Miles-Paul war seine Beteiligung an der Ausarbeitung des Bundesteilhabegesetzes.
Von 2008 bis 2013 war Ottmar Miles-Paul zudem Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen. Bei barrierefrei aufgerollt spricht er über seine Zeit bei der US-amerikanischen Behindertenbewegung und über die behindertenpolitischen Baustellen in Deutschland.
Die Radiosendung zum Nachhören
Hier kannst Du die Sendung nachlesen.
Interessante Links:
- Zeitzeugeninterview mit Ottmar Miles Paul
- Internetseite zum Bundesteilhabegesetz
- Nachruf von Judith Heumann
- Wir sind nicht mehr aufzuhalten-Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung
Die Sendung im Radio hören
Wien: Auf Radio ORANGE am 2. Juli 2023 um 10:30 Uhr. Die Sendung kann auch auf o94.at live gehört werden. Die Wiederholung gibt es am 16. Juli 2023 um 10:30 Uhr.
St. Pölten: Im campus & city Radio am 13. Juli 2023 um 17 Uhr. Die Sendung kann auf cr944.at live gehört werden.
Graz: Im Radio Helsinki am 28. Juli 2023 um 17 Uhr. Die Sendung kann auch auf helsinki.at live gehört werden.
Salzburg: Auf Radiofabrik am 10.Juli 2023 um 18 Uhr. Die Sendung kann auch auf radiofabrik.at live gehört werden.
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Die Radiosendung zum Nachlesen
Katharina Müllebner: Herzlich willkommen bei barrierefrei aufgerollt, der Sendung von BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben.
Ich, Katharina Müllebner, begrüße Sie ganz herzlich zu unserem neuen Beitrag.
In unserer Sendung haben wir bereits öfter mit Aktivistinnen und Aktivisten aus der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung gesprochen. Zum Beispiel mit Raul Krauthausen, einem Aktivisten aus Deutschland.
Heute dürfen wir wieder einen Mittstreiter aus Deutschland begrüßen. Ottmar Miles-Paul engagiert sich seit über 30 Jahren in der Behindertenbewegung. Sein Einsatz für die Bewegung ist vielfältig. Er hat den Behindertenverband „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben“ in Deutschland mit aufgebaut, als Publizist arbeitet er beim Online-Nachrichtendienst „kobinet-nachrichten“.
Er war an der Ausarbeitung des ersten Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Deutschland beteiligt und ebenfalls am Bundesteilhabegesetz.
Von 2008 bis 2013 übte er das Amt des Landesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen aus. Heute erzählt er uns etwas über seinen Aufenthalt bei der US-amerikanischen Behindertenbewegung und wie diese ihn mitgeprägt hat.
[Überleitungsmusik]Katharina Müllebner: Wir begrüßen heute Herrn Ottmar Miles-Paul, einen wichtigen Menschen der deutschsprachigen Behindertenbewegung. Herr Ottmar Miles-Paul, Sie sind ja schon sehr lange in der Behindertenbewegung aktiv. Wie sind Sie zum Aktivismus gekommen? Was war der ausschlaggebende Punkt?
Ottmar Miles-Paul: Ja, ich freue mich heute dabei sein zu können und dieses Interview führen zu können. Vielleicht noch eine Anmerkung vorab: Wir alle sind wichtige Menschen und gerade die Behindertenbewegung, die braucht ganz viele Menschen. Und da ist jede und jeder einzelne wichtig und so ging es mir eigentlich auch.
Also, ich bin nicht in die Behindertenbewegung hineingeboren worden. Ich bin sozusagen als sehbehinderter Bub in einem Dorf in Deutschland im Schwabenland aufgewachsen und ich war erst einmal eigentlich sehr verschüchtert und bin eigentlich so Stück für Stück in die Behindertenbewegung hineingerutscht.
Also, von daher … Ja, wir denken ja immer so, die Menschen, die auf dem Podium sitzen, die irgendwie ins Megaphon brüllen oder juristischen Rat wissen, das wären die Wichtigen. Ne. Ich glaube, es sind ganz viele Menschen, die wichtig sind und so ging es mir eigentlich auch.
Ich hatte natürlich auch Glück. Ich hatte Glück, gute Menschen kennenzulernen, die den Geist des Empowerments hatten, die mich weitergebracht haben, die mich zur Behindertenbewegung geführt haben und da ist so eine Person, wie zum Beispiel Judy Heumann aus den USA, die leider jetzt im März verstorben ist.
Ich traf sie auf einer Konferenz und hab gefragt: Na, könnte ich einmal ein Praktikum bei euch machen? – Write me a Letter, also schreib mir einen Brief, hat sie gesagt. Und man muss natürlich schon etwas tun, wenn man in der Behindertenbewegung aktiv ist. Ich schrieb also einen Brief und so landete ich in den USA, noch relativ jung als ich noch Sozialwesen studiert habe.
Und dort bin ich eigentlich behindertenpolitisch so richtig aufgewachsen.
Zuvor, vielleicht noch die zwei Sätze. Zuvor ging es mir oft so, ich habe so als sehbehinderter Mensch, wenn man so unterwegs ist und wenn man fragt: Können Sie mir einmal sagen, wo der Bahnhof ist? und jemand antwortet: Ja, sind Sie denn blöd, Sie stehen doch direkt davor. Ich hatte oft keine Antwort.
Ich hatte den Kopf eingezogen und mich selber irgendwie schlecht gefühlt. Und so bin ich Schritt für Schritt mit anderen behinderten Menschen zusammengekommen, wo ich Selbstbewusstsein gelernt habe.
Ja und dann, wenn man einmal eingesogen ist, ich sage mal, in ein anderes Denken über Behinderung, wo man auch Rollenvorbilder hat, dann rutscht man immer mehr und ich habe dann zu mindestens erkannt, wenn wir nichts tun, ja wer soll es dann tun für uns? Das klappt nicht.
Also, wir müssen uns schon selber engagieren und für unsere Rechte kämpfen. Und so bin ich in die Behindertenbewegung hineingeschlittert und ich sage mal jetzt, das prägt schon über die Hälfte meines Lebens.
Katharina Müllebner: Sie haben die Zeit in den USA gerade selbst angeschnitten. Sie waren in Berkeley. Von vielen wird Berkeley als das Mutterland der Behindertenbewegung bezeichnet. Erzählen Sie uns ein bisschen. Was war dort? Was ist dort passiert und was konnten Sie da mitnehmen?
Ottmar Miles-Paul: Ja, Berkeley, das liegt sozusagen da bei San Francisco in der Bay Area. Und das wurde ja oft so als, oder wird noch als Mekka der Behinderten bezeichnet.
Und so kam ich auch nach Berkeley und ich habe die wilde Zeit in Berkeley nicht erlebt. Da war so die Free-Speech-Bewegung. Berkeley war in der Studentenzeit in den 68er natürlich ein ganz wichtiger Ort.
Und auch für die Behindertenbewegung war Berkeley ein ganz wichtiger Ort, weil sich hier behinderte Menschen zusammengeschlossen haben und gesagt haben: Nein. Wir akzeptieren es nicht, wenn wir an der Uni nicht zugelassen werden wegen unserer Behinderung.
Nein, wir akzeptieren es nicht, dass wir auf Heime verwiesen werden, sondern wir gründen ein Center for Independent Living. Wir übersetzen das ins deutsche mit Zentrum für Selbstbestimmtes Leben.
Und so haben die in Berkeley begonnen, also nicht nur Beratungen, Assistenzdienste, den Wheelchair Repair, also einen Laden oder ein Büro, wo man auch Rollstühle reparieren konnte, kurzfristig und viele andere Dinge aufzubauen und ich stolperte dort 1988 hinein, also da war schon sehr viel entwickelt, und hatte da, ich sage mal als kleiner Praktikant, dessen Englisch miserabel war, hatte dort also wirklich die Chance, den Geist des Empowerments zu erleben.
Die haben mich überall hin mitgeschleift, auch die Judy Heumann. Die hat mich einfach mitgeschleift, mich vorgestellt und so lernte ich interessante Leute, viele tolle Projekte kennen. Aber ich lernte vor allem auch kennen, das von Berkeley aus viele Kämpfe ausgegangen sind.
Berkeley, San Francisco, war ein ganz wichtiger Ort, um zum Beispiel, ja, ich sag mal so: das erste amerikanische Antidiskriminierungsgesetz, den Rehabilitation Act von 1973, dafür zu kämpfen, dass klargestellt wurde, dass kein Cent aus Steuergeldern damals sozusagen für Diskriminierung gegen behinderte Menschen eingesetzt werden darf. Das war ein ganz wichtiger Schlüssel um später dann eben barrierefreie Unis, barrierefreie Busse und vieles andere zu bekommen.
Und da stolperte sich so rein und dass gerade auch in eine Zeit, wo das nächste große Antidiskriminierungsgesetz anstand, der Americans with Disabilities Act, und da war ich auch bei Anhörungen dabei, später dann auch in Washington und, wie gesagt. Ich hatte immer so keine Ahnung, was kommt jetzt eigentlich.
Und im Nachhinein betrachtet hatte ich so viel Glück, einfach so viel kennenlernen zu dürfen und das prägt mich heute noch.
Aber vor allem auch die Menschen erlebt zu haben, die Selbstbewusst waren, die in der Politik mitgespielt haben, die in den Gremien waren, die einfach auch ein selbstbestimmtes Leben geführt haben, trotz der zum Teil miserablen sozialen Bedingungen in den USA.
Katharina Müllebner: Sie kamen ja auch damals mit dem Konzept des Peer Supports, heute nennen wir es Peer Counseling oder Peer Beratung, also Betroffene beraten Betroffene, in Kontakt. Wie war das? Beschreiben Sie das.
Ottmar Miles-Paul: Ja, wenn man so als Praktikant, Student, ich hatte damals Sozialwesen studiert, das ich dann auch fertig gemacht habe, wenn man dann so in Berkeley ankommt, dann überlegen die sich natürlich, wo steckt man den hin. Und ich hatte das Glück, dass ich in die Abteilung kam, wo es eben gerade um das Peer Counseling ging.
Da war also zum Beispiel auch eine blinde Frau, die hat behinderte Menschen beraten, da waren andere behinderte Menschen. Wenn man in das Center for Independent Living kam, da wuselte es von behinderten Menschen. Und man hat eine Beratung bekommen, die jetzt nicht abgehoben war, sondern von Leuten, die selber diese Erfahrung gemacht haben. Und das war für mich unheimlich neu.
Wir hatten in Deutschland zwar auch schon dafür gestritten, dass es Beratungen, Assistenzdienste gibt, aber das in so einer Kompaktheit in Berkeley erleben zu können, das war total spannend.
Und dann haben sie mich in die Classes for Independent Living gesteckt. Das waren also so Schulungskurse, da waren auch Leute aus Einrichtungen dabei, und die wurden auch angeleitet von behinderten Menschen und ich war da sozusagen als Praktikant mit dabei und da hat man einerseits sich natürlich ausgetauscht. Wie lebt man mit einer Behinderung? Auf was muss ich achten? Wie stelle ich Assistentinnen/Assistenten ein? Wie führe ich Einstellungsgespräche?
Aber es waren auch praktische Dinge: Was brauche ich, um zum Beispiel mein Frühstück zu machen? Wir sind einkaufen gegangen, wir haben Field Trips, also Ausflüge gemacht, wie kommt man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln klar. Und das war total spannend und neu für mich.
Sprachlich natürlich auch manchmal noch herausfordernd, das wurde dann aber besser. Und da hatte ich so diese Idee: Behinderte Menschen unterstützen behinderte Menschen, beraten sich gegenseitig, diese Power des Ganzen.
Ja, und dann muss ein Student natürlich auch irgendwann eine Diplomarbeit schreiben und ich hatte dann meinen Aufenthalt in den USA verlängert und habe mich dann einfach mal an der Uni, da gab es dann auch schon den Computer, den Blinde und Sehbehinderte nutzen konnten, da habe ich mich im Keller vergraben und einfach mal meine Diplomarbeit zum Peer Counseling vorgeschrieben.
Ich kam dann nach Deutschland zurück, bin wieder an meine Uni und habe gesagt: Hier, ich habe diese 180 Seiten. Geht das als Diplomarbeit durch? Die Dozenten waren zum Glück sehr flexibel, haben gesagt, das und das ändere noch einmal, setz noch etwas zu Deutschland hinzu, ja und so habe ich dann dieses Buch, das dann später als Buch wird Wir sind nicht mehr aufzuhalten, also über Peer Counseling USA und Deutschland hatte ich dann geschrieben und diese Forschungen dazu, also diese Gespräche auch mit Menschen.
Ich habe viele Einrichtungen auch besucht. Ich bin an viele Programme für behinderte Studierende gereist, in Centers for Independent Living, das war natürlich super Futter für mich und das hat Spaß gemacht. Und darum brenne ich heute auch immer noch für die Idee.
Katharina Müllebner: Welche Personen, die Sie dort kennengelernt haben, haben Sie besonders geprägt?
Ottmar Miles-Paul: Also, das war natürlich die Judy Heumann. Diese Kämpferin für die Rechte behinderter Menschen, die war auch in diesem Film Crip Camp sehr sehenswert, eine zentrale Person.
Der Ed Roberts, auch jemand. Der wurde an der Uni abgelehnt. Der war dann später Rehabilitationsminister in Kalifornien. Das waren natürlich die schillernden Personen. Aber es waren Viele im Alltag.
Es war also die sehbehinderte Beraterin, die ich da traf. Es waren in dem Kurs auch Menschen, die dann diesen Schritt gewagt haben, ich ziehe aus dem Elternhaus und suche mir eine barrierefreie Wohnung und Assistenz. Es waren ganz viele Menschen, die mich geprägt haben und später kam dann auch noch Justin Dart hinzu. Der war früher Behindertenbeauftragter der USA, und das war für mich natürlich ein Hammer.
Ich kam aus Deutschland, wo oft die Nichtbehinderten die Behindertenbeauftragten waren. Ja, da hatten wir echt ein paar, ich muss es einfach so sagen, ein paar Pfeifen dabei und jetzt traf ich auf den Justin Dart: Rollstuhlfahrer, Mexikanerhut, in Stiefeln und natürlich immer mit Anzug und Krawatte. Und der redetet dann von der Revolution der Menschenrechte behinderter Menschen und hat dieses Gesetz mit vorangetrieben, war auch noch bei den Republikanern. Also, es waren so viele spannende Menschen, die das ausgemacht haben.
Aber ich sage nochmals eins, es waren auch viele Begegnungen in den USA, wo man einfach gemerkt hat, das Bürgerrechtsdenken ist in der Normalbevölkerung angekommen, weil es einfach auch klare Gesetze gab.
Und es hat mich auch immer wieder beeindruckt, dass wenn ich im McDonalds oder irgendwo gesagt habe: Wissen Sie, ich kann das nicht lesen da hinten, was das an der Wand steht. Wie machen Sie mir das jetzt zugänglich? – Oh, oh ja, ja, ja, ja. Ich kann es Ihnen vorlesen, wir haben hier etwas in Großdruck. Das war so ein ganz anderes Lebensgefühl und erst, als ich wieder nach Deutschland zurückkam nach über 15 Monaten, habe ich gleich wieder gemerkt, wo der Hammer hängt. Und die Mischung hat es ausgemacht. Ganz viele verschiedene Menschen, die ich kennenlernen durfte, die mich geprägt haben.
Katharina Müllebner: Wenn Sie das jetzt mit Deutschland damals vergleichen oder vielleicht heute noch vergleichen, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Ottmar Miles-Paul: Da geht mir ganz viel durch den Kopf. Also, man hat immer so gesagt, der Kulturschock, wenn man in die USA geht. Zu der Zeit `88, war ja schon viel globale Annäherung, aber der Kulturschock war wirklich in dieser Herangehensweise, in diesem Denken. In Deutschland hörte ich noch viel mehr und höre es heute noch immer: Das geht nicht. Das ist der erste Satz. Das machen wir nicht, das haben wir noch nie gemacht.
Und ich bin leider so jemand, der … genau so etwas geht mir tierisch auf den Wecker. Weil, ich denke, wir sind dazu da, um zu gucken, wie wir Dinge möglich machen. Und das war halt dieses USA. Also, ich habe immer gesagt, in den USA, es lohnt sich immer zu fragen. Also, wie können Sie mir das zugänglich machen.
Und die Leute waren einfach offen, beweglich, hilfsbereit, also, die meisten. Wir haben in den USA natürlich auch sehr viele konservative Menschen, wo man manchmal den Kopf schüttelt. Aber im Umgang sind sie oft wahrscheinlich noch geprägt von dieser Gesellschaft, die sich einfach auch viel erarbeiten und erschließen musste.
Und jetzt komme ich zurück nach Deutschland. Und komme wieder zurück in diese, also Ende `89 in diese alt-geprägte deutsche Umgehensweise mit Behinderung. Wir hatten damals noch keine Grundgesetzänderung, wo klargestellt wurde, niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Also, diese historische Erfahrung, die benachteiligte Gruppen gemacht haben und die in Deutschland zu diesem Benachteiligungsverbot für viele Gruppen geführt hatte. Behinderte Menschen waren nicht mitgedacht. Wir waren und sind immer noch belastet von unserer Geschichte, der nutzlosen Esser und all das.
Und das trifft in Deutschland so zusammen und natürlich dieses ausgebaute System der Aussonderung. Und da hatte die USA oder der englischsprachige Raum glaube ich generell das Glück, dass die schon so in den 60er-Jahren, 70er-Jahren andere Herangehensweisen hatten. Die Deinstitutionalisierung, also das behinderte Menschen nicht in Einrichtungen leben sollen, sondern mittendrin. Schulische Inklusion. Da war in Deutschland kein Funke davon.
Einzelne Eltern haben sich das mühsam erkämpft und so kam ich zurück. Und es war, der Kulturschock war dann für mich, das wieder in Deutschland zu erleben. Aber auch, ich sage einmal, im eigenen Umfeld.
Und das trifft mich heute sehr oft, dass Menschen, wo man eigentlich denkt: Herrgott, ihr könntet doch etwas bewegen, ihr könntet anders denken, dass wir so viel als gegeben hinnehmen irgendwelche Regeln, wo wir es anders machen könnten. Und diesen Kulturschock, ich habe ihn immer noch in den Knochen, weil ich hatte die Chance einfach vieles andere kennenzulernen, wobei man jetzt natürlich sagen muss, ich war in Berkeley. Ich war auch viel an der Ostküste.
Und ich hatte später auch zum Beispiel mit dem mittleren Westen zu tun. Es gibt in den USA schon regionale Unterschiede, aber es gibt ein Level von Gesetzen, der zu mindestens weiterhilft. Und hier in Deutschland, wir müssen noch um so vieles kämpfen.
Katharina Müllebner: Kommen wir jetzt mal zu Deutschland. Sie waren ja da an der Gestaltung mehrerer wichtiger Gesetze, unter anderem des heißen Eisens des Bundesteilhabegesetzes, beteiligt. Würden Sie uns einmal erzählen, wir in Österreich haben das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, was ist das Bundesteilhabegesetz?
Ottmar Miles-Paul: Ja, das Bundesteilhabegesetz ist eigentlich ein Gesetz, das kam jetzt seit diesem Kampf, wo ich 1989, Ende `89, zurückkam, das eigentlich jetzt eins der neueren Gesetze ist in Deutschland. Dieses Bundesteilhabegesetz kam so in die Diskussion. Es wurde eigentlich schon 20, 30 Jahre immer wieder darüber geredet, wie können wir die Eingliederungshilfe reformieren.
Also die Hilfen für behinderte Menschen, die in Deutschland Eingliederungshilfe genannt werden, obwohl die oft gar nichts mit Eingliederung zu tun haben, sondern damit werden viel die Werkstätten für behinderte Menschen und aussondernde Wohneinrichtungen gefördert.
Auf jeden Fall, dieses Bundesteilhabegesetz kam dann so ab 2013, 2014 und dann 2015 und 2016 richtig in die Diskussion und das war die Chance in Deutschland wirklich etwas von, ich sage mal, Aussonderung zur Teilhabe mittendrin zu verändern. Und das Bundesteilhabegesetz, das fing gut an. Es war ein sehr guter Beteiligungsprozess, sehr intensiv mit sehr vielen juristischen Fragen und Themen, also eine richtige Herausforderung.
Da haben wir geackert wie die Pferde, um da einfach hinterher zu kommen. Und das lief ganz gut an und wir waren hoffnungsfroh. Und dann kam der Hammer irgendwann in diesem Beteiligungsprozess. Das Bundesfinanzministerium sagte: Nein, die fünf Milliarden, die wir eigentlich vorgesehen haben, die wir hier reinschießen wollten, die geben wir jetzt an die Kommunen für viele andere Dinge. Verkehrsinfrastruktur.
Und damit war das Geld raus, und damit war die Luft raus und damit wurde auch immer deutlicher, dass es eben nicht nur um Verbesserung geht, obwohl in dem Gesetz einige Verbesserungen sind, sondern dass auch eine Reihe von Verschlechterungen drohen. Und das war dann die Zeit der Behindertenbewegung in Deutschland.
Was mich immer wieder ärgert, dass wir nicht wirklich daran mitwirken können, wie kommen wir voran und dort viele Verbündete, sondern wir mussten jetzt rufen: Nicht mein Gesetz!, weil eben einiges mit drin war.
Wir haben die Abschaffung der Einkommen zur Vermögensanrechnung nicht wirklich geschafft, wir haben es nur teilweise geschafft und das Schlimmste war, es drohte zum Beispiel, dass behinderte Menschen auch ihre Assistenz teilen müssen und solche Dinge. Es drohte, dass Leute aus der Eingliederungshilfe rausfallen.
Ja, und dann haben wir demonstriert wie die Wilden, wir haben uns angekettet beim Reichstag über Nacht, wir haben Aktionen durchgeführt, wo wir behinderte Menschen in den Käfig gesperrt haben, wir sind in die Spree in Berlin, das ist der Fluss, der da am Reichstag vorbeifließt, sind wir gesprungen und haben gerufen: Die Teilhabe geht baden.
Also, es war so ein richtig politischer Kampf und am Ende hat dann der Bundestag noch einige Veränderungen vorgenommen, so dass es nicht ganz so schlimm ausgefallen ist, aber wir hätten viel weiterkommen können und kämpfen jetzt immer noch an den Baustellen, die wir haben. Das Gesetz hat ein paar gute Sachen. Zum Beispiel Peer Counseling, also die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Da werden in Deutschland jetzt seit 2018 über 500 Beratungsstellen gefördert, wo auch das Peer Counseling wichtig ist. Nicht überall praktiziert, aber für unsere Bewegung hat es einige Türen geöffnet.
Das ist in diesem Gesetz drin, aber es ist eigentlich in diesem Gesetz auch drin, dass behinderte Menschen jetzt nicht, dass die Gelder jetzt nicht mehr an die Einrichtung fließen, sondern sie fließen an die Hilfen behinderter Menschen und dass behinderte Menschen eigentlich wählen können.
Und da sind wir jetzt wieder in Deutschland, das starre System: Es hat sich für die Betroffenen, auch die, die aus Einrichtungen, Werkstätten raus wollen, nur für viel zu wenige etwas getan, so dass wir eigentlich jetzt mit diesem Gesetz schon seit über sechs Jahren evaluieren. Da bin ich in allem möglichen Gremien drin, dass wir beraten, aber es ist so mühsam. Aber das Gesetz bietet schon einige Möglichkeiten, aber einiges haben wir auch noch nicht erreicht.
Katharina Müllebner: Sie sagen zum Beispiel, Sie haben verschiedene Kritikpunkte kurz angeschnitten. Auf ein paar gehe ich jetzt ein, zum Beispiel, dass die Eingliederungshilfe nicht immer funktioniert. Sie haben gesagt, ich habe auch davon gelesen, dass es sogenannte Assistenzpools gibt, das heißt, wenn Menschen mit Behinderung zusammenwohnen, dass sie sich das teilen müssen. Ist das so gemeint?
Ottmar Miles-Paul: Also, mit den Assistenzpools: Es gibt diese gemeinschaftliche Leistungserbringung, so nennt sich das. Diese Möglichkeit, da müssen die Betroffenen zustimmen, das ist eigentlich das, was in einer großen Einrichtung passiert. Ein behinderter Mensch zieht ein, bekommt ein Zimmer, aber damit hat man in der Regel keinen persönlichen Assistenten, sondern man ist darauf angewiesen, wer hat gerade Zeit, wer hat gerade Dienst und machen die das so, wie ich gerne möchte oder machen die das nullachtfünfzehn. Und da war die Idee im Gesetz zu verankern, diese gemeinschaftliche Leistungserbringung, die könne auch sozusagen im ambulanten Bereich erfolgen.
Nehmen wir einmal an, irgendjemand braucht jemanden, der nachts, also man muss nachts vielleicht ein- oder zweimal umgedreht werden, weil man sich nicht selber drehen kann. Und das könnte man durchaus sagen, okay, da gibt es einen Dienst, die kommen und da muss ich nicht eine Assistenz die ganze Zeit bei mir haben. Es gibt Situationen, wo das durchaus Sinn machen kann, wenn die Betroffenen das auch so wählen.
Aber es gibt natürlich auch die Gefahr, dass dann gesagt wird, ok, wir erbringen die Leistung als Anbieter und wir bieten jetzt an: Der Müller will ins Stadion und der Assistent, der macht das auch gerne, also, ihr könnt jetzt alle zusammen ins Stadion gehen, aber der andere hält von Fußball gar nichts. Und dann ist man wieder in so einer Situation, man muss sich eigentlich anpassen, was der Assistenzdienst macht und es geht nicht nach dem eigenen Gusto.
Und wir haben jetzt zum Glück, es gibt wenig Fälle, also mir sind kaum, welche bekannt, wo jetzt da dieser Druck ausgeübt wird. Aber das ist natürlich gängige Praxis in der Behindertenhilfe, dass behinderte Menschen eigentlich zusammengepfercht werden und man sich anpassen muss, welche Assistenz ist gerade da und welche nicht.
Also deshalb müssen wir bei dem Thema auch immer sehr aufpassen. Denn die Anbieter, die müssen auch darauf achten, dass ihre Leistung nicht zu teuer ist. Und was gibt es Besseres für die Anbieter wenn ich sagen kann, ich habe jetzt diese Gruppe, die unterstütze ich zusammen und dafür kriegen wir das Geld und ich muss nicht Assistenz für jeden einzelnen stellen. Also, das ist so eine Gefahr in Deutschland.
Katharina Müllebner: Was sind noch Probleme im Bundesteilhabegesetz? Es ist auch immer eine große Baustelle, ist auch immer der Arbeitsmarkt. Das alle Menschen die Chance haben auf den ersten Arbeitsmarkt zu gehen. Konnte da etwas verbessert werden?
Ottmar Miles-Paul: Ja, das ist das Thema, das mich mit am meisten betrübt. Wir haben in Deutschland dieses ausgebaute System von Werkstätten für behinderte Menschen. Das mag für den einen oder die andere erst einmal gut klingen.
Das wurde aufgebaut in den 60er-, 70er-Jahren. Eltern haben sich dafür eingesetzt, dass ihre behinderten Kinder damals, Erwachsenen langsam, dass die auch Orte hatten, wo sie hingehen könnten. Die Leute haben dort keinen richtigen Arbeitsvertrag.
Die Leute arbeiten im Durchschnitt da oft so im Schnitt 29, 30 Stunden, viele auch Vollzeit und es ist eine Tagesbeschäftigung. Der Durchschnittslohn beträgt ungefähr 225 Euro.
Man kann sich also ausrechen, dass das weit unter dem Mindestlohn ist. Es ist eigentlich Aussonderung pur, weil es gab und gibt auch oft viel zu wenige Alternativen, die den Menschen angeboten werden. Also, es werden ich glaube 0,3 Prozent jährlich von diesen über 300.000 Beschäftigten in den Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt.
Also, klassische Aussonderung, eine Riesensauerei. Jetzt kommt das Bundesteilhabegesetz des Weges, da steht auch etwas von Wunsch und Wahlrecht drin und im Bereich Arbeit hat man das Budget für Arbeit verankert. Eigentlich eine gute Sache.
Der Gedanke ist, die Leistung, die für einen behinderten Menschen gezahlt wird, wenn man in eine Werkstatt geht, die geht dann sozusagen von dem Kostenträger direkt an die Werkstatt. Dafür kann sich der behinderte Mensch einen Rucksack schnüren, ich gehe zu einem Arbeitgeber, ich finde einen Job und der bekommt bis zu 75 Prozent des Anteils des Gehalts letztendlich. Es ist noch ein bisschen komplizierter, weil die Arbeitgeberanteile sind nicht erfasst.
Also, der bekommt dann diese Summe und der Arbeitgeber zahlt vielleicht für jemand, der 30 Stunden bei jemanden ist, vielleicht 450 Euro. Damit bekommt die Person einen Job, der sozialversicherungspflichtig ist, der richtig bezahlt ist. Das klingt gut.
Nur, die Werkstätten tun fast nichts dafür, dass die Leute rauskommen. Die Arbeitsagenturen tun nichts dafür, weil die sind nicht in ihren Zuständigkeiten. Und so haben wir in Deutschland, ich sage mal, 2000, 3000 Leute, die das geschafft haben. Das ist also nicht einmal ein Prozent. Und das ist unsere große Baustelle, daran müssen wir arbeiten, dass wir da vorankommen und dass die wirklich auch eine gute Unterstützung kriegen, weil, welcher Werkstattleiter hat denn ein Interesse Kunden zu verlieren, für die man gutes Geld bekommt.
Da braucht es andere Dynamiken und da arbeiten wir natürlich von der Bewegung stark daran. Eigentlich kann man das auch genauso für das Wohnen nehmen, weil die Einrichtungen leben, davon, dass ihre Betten gefüllt sind, wie es immer so schön heißt.
Behinderte Menschen, die eigentlich raus wollen, die bekommen kaum Unterstützung und die Hürde ist sehr groß, auch mit dem Wohnungsmarkt, mit der Assistenz, die man braucht, dort rauszukommen.
Man ist also in den Fängen dieser traditionellen Anbieter, die sich jetzt alle das Inklusionsumhängchen so schön anheften und so tun, als würden sie Inklusion betreiben, aber es ist eigentlich oft nichts anderes als Aussonderung. Denn keiner von diesen Leuten, die dort das propagieren, wollen eigentlich in solchen Einrichtungen mit all der Anpassung und Abwertung, die damit verbunden ist, leben.
Katharina Müllebner: Also, es klingt ein bisschen wie bei uns, nur dass bei uns die Gesetze ein bisschen anders heißen. Woran liegt das, dass so wichtige Reformen, wo es um Menschenrechte geht, einfach nicht umgesetzt oder nicht ausreichend ausformuliert werden, dass man sie umsetzen kann?
Ottmar Miles-Paul: Ja, das liegt an den starren Strukturen. Das liegt daran, weil Organisationen, Menschen, Geld mit behinderten Menschen verdienen, die in Abhängigkeit sind. Das liegt an dem Sonderschulwesen, das wir haben, das schon frühzeitig aussondert. Und es liegt auch daran, dass behinderte Menschen oft nicht an Entscheidungen partizipieren können.
Die Wohlfahrtsleute, die sitzen der Politik auf dem Schoß, die werden gehegt und gepflegt, da ist eine enge Verbandelung.
Das sind einige der Probleme, die wir haben bei der Umsteuerung hin zur Selbstbestimmung, weg von Bevormundung und Aussonderung.
Katharina Müllebner: Das ist ein etwas deprimierendes, aber doch ein Schlusswort. Aber wir bleiben dran.
Ottmar Miles-Paul: Ja, das Schlusswort wäre eigentlich: Wir kämpfen für unsere Rechte. Wir haben das eine oder andere auch erreicht, aber es ist noch ein verdammt langer Weg und wir müssen mehr aktiver werden.
[Überleitungsmusik]Katharina Müllebner: Das war unser Gespräch mit Ottmar Miles-Paul. Menschen wie er zeigen uns, dass man gemeinsam viel bewegen kann, wenn man bestehende Umstände nicht einfach hinnimmt, sondern dagegen vorgeht.
Manche Veränderungen gehen zwar langsam voran, aber wenn man gar nichts tut, würde sich ja nie etwas verändern.
Wir bedanken uns bei Ottmar Miles-Paul für die interessanten Einblicke. Alle Informationen zu dieser Sendung finden Sie wie immer auf unserer Internetseite www.barrierefrei-aufgerollt.at. Es verabschiedet sich Ihr Redaktionsteam Katharina Müllebner, Markus Ladstätter und Martin Ladstätter.
[Musik mit Text: barrierefrei aufgerollt – kompakt und leicht verständlich]