2020 feiern wir 100 Jahre Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich. Wir geben in dieser Sendung einen kleinen Einblick in die Geschichte der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich und sprechen mit Volker Schönwiese.
Er war Hochschullehrer am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Er baute den Lehr- und Forschungsbereich der inklusiven Pädagogik und Disability Studies an der Universität mit auf. Zudem gründete er die Internetbibliothek bidok, die sich mit Fragen der Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Mit ihm sprechen wir über seine Zeit in der Selbstbestimmt Leben Bewegung und über die Themen, die damals wie heute wichtig waren.
Die Radiosendung zum Nachhören
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Interessante Links
- BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben
- Selbstbestimmt Leben Initiative Österreich
- bidok Projekt zur Geschichte der Selbstbestimmt Leben Bewegung
- BIZEPS Artikel 100 Jahre Behindertenbewegung – ein Blick in die Geschichte
- Beitrag von Radio FRO 105,0 aus dem Jahr 2019 zur Geschichte der Selbstbestimmt Leben Bewegung
Die Sendung im Radio hören
Wien: Auf Radio ORANGE am 2. August 2020 um 10:30 Uhr. Die Sendung kann auch auf o94.at live gehört werden. Die Wiederholung gibt es am 16. August 2020 um 10:30 Uhr.
St. Pölten: Im campus & city radio am 13. August 2020 um 17 Uhr. Die Sendung kann auch auf cr944.at live gehört werden.
Graz: Im Radio Helsinki am 28. August 2020 um 16:30 Uhr. Die Sendung kann auch auf helsinki.at live gehört werden.
Salzburg: Auf radiofabrik am 10. August 2020 um 18:00 Uhr. Die Sendung kann auch auf radiofabrik.at live gehört werden.
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Die Sendung zum Nachlesen
Katharina Müllebner: Herzlich willkommen bei barrierefrei aufgerollt von BIZEPS, Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, mein Name ist Katharina Müllebner.
In dieser Sendung geht es um die österreichische Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Warum wir gerade in dieser Sendung die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behandeln, hat einen besonderen Grund, wir feiern 2020 100 Jahre Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Bevor Sie jetzt das Interview mit unserem Gast Volker Schönwiese hören, gibt es von mir Antworten auf die Fragen, warum 100 Jahre Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und was ist eigentlich die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Die Geschichte der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Österreich über die wir in dieser Sendung reden, ist sehr umfangreich. Ihre Anfänge liegen in der Zwischenkriegszeit, das heißt in den Jahren 1918 bis 1938.
Bis auf einzelne Einrichtungen und die Armenfürsorge gab es damals kein funktionierendes Fürsorgesystem für Menschen mit Behinderungen.
Siegfried Braun war ein wichtiger Vertreter der ersten österreichischen Behindertenbewegung. In den 1920er-Jahren gründete er die erste österreichische Krüppelarbeitgemeinschaft.
Krüppel war damals ein Ausdruck, den man für körperbehinderte Menschen verwendet hat.
Brauns Ziel, der selber durch Gelenksentzündungen auf einen Rollstuhl angewiesen war, war es die körperbehinderten Menschen zu organisieren. Er konzentrierte sich dabei auf jene Personen, die keinen Anspruch auf Unterstützung oder Renten hatten. Das betraf vor allem jene Menschen, die keine Kriegsinvaliden waren, das heißt, ihre Behinderung wurde nicht durch Verletzungen im Krieg verursacht.
Die Krüppelarbeitgemeinschaft gründete damals mehrere selbstorganisierte Werkstätten, um Arbeit für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.
Die zentralen Forderungen damals waren: Arbeit, nicht Mitleid. Aber es gab auch andere Forderungen, zum Beispiel nach medizinischer Versorgung, nach Hilfsmitteln und nach Maßnahmen im Bereich der Bildung.
Man forderte auch die Einrichtung von Fürsorgestellen und Beratungsstellen in den Bundesländern.
Die Forderung danach, behinderte Menschen zahlenmäßig zu erfassen, sowie nach einem sogenannten Krüppelfürsorgegesetz, das die Situation von Menschen mit Behinderungen verbessern sollte, waren ebenfalls sehr wichtig.
Siegfried Braun warb um Verbündete, organisierte Informationsveranstaltungen, Konferenzen und Diskussionsrunden, um die Öffentlichkeit auf die Probleme von Menschen mit Behinderungen aufmerksam zu machen.
Im Jahr 1938 kam es durch die Herrschaft der Nationalsozialisten zu einem Einbruch in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
In diesem Jahr wurde Siegfried Braun im KZ ermordet. Die Krüppelarbeitgemeinschaft löste sich auf und wurde Teil des Reichsbund der Körperbehinderten.
Aus dem Kampf um Arbeit und Gleichberechtigung wurde eine Pflicht auf Leistung und Arbeit. Das war bereits verbunden mit eugenischen Sterilisations- und Selektionsgedanken, diese beinhalteten auch die Ermordung jener, die nicht die nötige Leistung erbringen konnten.
Siegfried Braun kann als Vorreiter der heutigen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung gesehen werden, die sich an Menschenrechte und Gleichheit orientiert.
Sein außergewöhnlicher Einsatz war in den 1920er-Jahren, liegt also heute rund 100 Jahre zurück. Das ist der Grund, warum wir 2020 100 Jahre Selbstbestimmt-Leben-Bewegung feiern.
Die moderne Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, in die wir heute einen kleinen Einblick von unserem Gast bekommen, hat ihre Anfänge in den 1970er-Jahren, in denen sich Menschen mit Behinderungen zunehmend gegen die Aussonderung, Diskriminierung und Gewalt auflehnten.
Zentral ist zum Beispiel die Forderung nach dem Abbau von Behindertenheimen, die auch Deinstitutionalisierung genannt wird. Selbstbestimmt Leben bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht länger passive Objekte von Fürsorge und Fremdbestimmung anderer sein wollen.
Menschen mit Behinderungen wissen selbst am besten, was sie brauchen und können ihre Anliegen und Forderungen selbst am besten vertreten.
Ein zentraler Grundsatz der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist die sogenannte Peer-Beratung, das heißt, Betroffene beraten Betroffene und helfen ihnen dabei, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu organisieren.
Wichtig für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist auch eine andere Sichtweise auf Behinderung. Man unterscheidet verschiedene Sichtweisen auf Behinderung.
Die medizinischen und individuellen Ansätze betrachten Behinderung als ein Defizit im Körper, im Geist in der Psyche oder im Leistungsvermögen einer Person. Die Behinderung ist ein Problem der Person, das durch medizinische und therapeutische oder pädagogische Maßnahmen beeinflusst werden kann.
Im Individuellen-Modell werden Behinderungen und körperliche Schädigungen gleichgesetzt und als persönliches Schicksal gedeutet, das individuell zu bewältigen ist.
Im Kontext der Behindertenbewegung entwickelte sich jedoch ein neues Modell von Behinderung, das sogenannte soziale Modell.
Menschen mit Behinderungen kamen zu der Einsicht, dass viele ihrer erlebten Schwierigkeiten eher auf Diskriminierung, fehlende Chancengleichheit und zahlreiche andere gesellschaftliche Barrieren zurückzuführen war als auf ein körperliches oder geistiges Funktionslevel.
Die Grundaussage des sozialen Modells ist: Es ist die Gesellschaft, die behindert. Die eigentliche Behinderung liegt also nicht im Körper, im Geist oder in der Psyche einer Person, sondern in den verschiedenen Arten des Ausschlusses, die man von der Gesellschaft aufgebürdet bekommt.
Behinderung wird von einem körperlichen zu einem sozialen Nachteil, der durch gesellschaftliche Veränderungen beeinflusst werden kann.
[Überleitungsmusik]Katharina Müllebner: Volker Schönwiese studierte Psychologie und Pädagogik, von 1982 bis 2013 war er Hochschullehrer am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Innsbruck. Er war am Aufbau des Lehr- und Forschungsbereiches inklusive Pädagogik und Disability Studies beteiligt.
Er ist Gründer des Projektes bidok eine barrierefreie, digitale Bibliothek zu Behinderung und Inklusion.
Die Audioqualität dieses Interviews ist etwas anders, das liegt daran, weil wir das Interview per Zoom geführt haben.
Hören Sie jetzt Volker Schönwiese, der uns etwas über seine Zeit in der österreichischen Behindertenbewegung erzählen wird.
Also Herr Schönwiese, schön, dass sie da sind. Heute geht es um die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung bei uns. Was bedeutet denn Selbstbestimmt Leben aus Ihrer Sicht?
Volker Schönwiese: Ja, Selbstbestimmt Leben heißt auch, Kontrolle über das eigene Leben haben und entscheiden können, was ich für Unterstützung bekomme und wo ich die Unterstützung bekomme und selbst entscheiden zu können unter akzeptablen Alternativen.
Also es nützt mir nichts, wenn ich selbst entscheiden kann, aber keine Alternativen habe. Wenn ich im Heim oder im Altenpflegeheim wohne und ausziehen will und es gibt aber keine Möglichkeit persönliche Assistenz zum Beispiel zu bekommen außerhalb des Heims, dann habe ich auch keine akzeptable Alternative.
Also Selbstbestimmung heißt wählen zu können und es gibt aber akzeptable Alternativen. Es kann ja nicht die Alternative sein, dass ich dann in ein anderes Heim ziehe, das mich genauso einschränkt wie das Erste, das ist ja keine Wahl.
Katharina Müllebner: Also sehr wichtig für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung scheint ja die Auflehnung gegen die Unterbringung in Heimen zu sein, warum ist das so?
Volker Schönwiese: Ja, ich kann das an einem Beispiel erklären, weil, wir haben ja hier so ein Projekt zu 100 Jahre Behindertenbewegung und da ist ein Beispiel, wo man sagen kann, schon sehr lange, seit über 100 Jahren gibt es dieses Problem auch als solches erzählt und benannt.
Und zwar war das ein Mann, der hat geheißen Siegfried Braun, der war aus Olmütz in der damaligen Monarchie und ist nach Wien gezogen, weil er zu Hause nicht genügend Unterstützung gekriegt hat und dort in ein Pflegeheim hätte müssen, ein Siechenhaus, und ist nach Wien gezogen, weil er gedacht hat, in Wien gibt es mehr Unterstützung.
Und in Wien haben ihnen dann die ganz berühmten, damals wichtigen Personen wie der Adolf Lorenz, ein wichtiger Chirurg, der Vater von Konrad Lorenz und andere gesagt, er soll auch in Wien ins Siechenhaus gehen, Siechenhaus heißt Alterspflegeheim.
Er hat nur für seinen Alltag Unterstützung gekriegt, indem er ins Alterspflegeheim geht und das hat ihn sehr geärgert und er hat dann später geschrieben, ich will nicht ins Asyl, also ins Heim, man muss das verhindern und ich will eine Organisation gründen, um dagegen zu kämpfen.
Also das war eigentlich, ich glaube, die Geburtsstunde, dass sich behinderte Menschen wehren, dass sie keine Alternative gegenüber dem Heim haben und das ist über 100 Jahre her. Und er hat dann eine Organisation gegründet in den 20er-Jahren, also auch vor 100 Jahren, die erste österreichische Krüppelarbeitgemeinschaft und die haben wichtige Ziele gehabt und ein wichtiges Ziel war: kein Mitleid, sondern Arbeit, richtige Arbeit zu kriegen, nicht nur auf Mitleid angewiesen zu sein und auf Spenden und ähnliches und Arbeit statt Siechenhaus, also Arbeit statt ins Heim zu müssen.
Und das ist eigentlich schon interessant, dass der Kampf schon mit diesen Zielen 100 Jahre dauert in Österreich.
Katharina Müllebner: Was sind denn sonst noch so zentrale Eckpfeiler der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung?
Volker Schönwiese: Ja, zentrale Eckpfeiler der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung sind natürlich das ausgehend von der eigenen Situation entscheiden zu können, Kontrolle übers eigene Leben zu haben und Alternativen zu haben, alle Lebensbereiche betroffen sind.
Am ersten natürlich, wie wohne ich, mit wem wohne ich, wer unterstützt mich mit hoffentlich persönlicher Assistenz und nicht mit irgendwelchen unterstützenden Personen, die aber Professionelle sind, die immer wissen was für uns gut ist, das ist Selbstbestimmung.
Aber dann natürlich, gibt es diese Wohnungen überhaupt, in denen wir leben können, wo wir dann auch eigenständig unterwegs sein können?
Kriegen wir die Bildung, die uns entspricht? Das ist ja keinesfalls so, dass behinderte Menschen die Bildung kriegen, die ihren Möglichkeiten entspricht, sowohl vom Denken her, von der Leistung her, als auch von der Möglichkeit mit anderen Kindern zu kommunizieren, sprich in Kontakt zu sein, voneinander zu lernen.
Das ist ganz wichtig, kriegen wir die Bildung und die Ausbildung, die wir auch/ die uns möglich ist und die uns auch hilft, uns zu entwickeln.
Und jenseits der Ausbildung, wie arbeiten wir oder wie leben wir und wie sind wir tätig?
Tätig sein, etwas was uns mit Sinn erfüllt oder was uns Geld gibt. Also wenn wir arbeiten, dann müssen wir Geld kriegen, wie alle anderen auch. Es kann nicht sein, dass wir irgendwo arbeiten, in Beschäftigungstherapie oder wie auch immer das genannt ist und aber kein Geld dafür kriegen und nicht sozialversichert sind.
Das ist eine grundlegende Verletzung unserer Rechte, aber manche Leute können auch nicht wirklich arbeiten auf diesem Arbeitsmarkt oder wollen auch nicht wirklich. Dann heißt das aber nicht, dass man sie irgendwie dann ablegt, dann abstellt mit sinnlosen Tätigkeiten auch sie haben ein Recht auf sinnerfüllte Tätigkeit. Also einen Sinn im Leben zu sehen und mit anderen in Kontakt zu sein, das betrifft alle Lebensbereiche.
Katharina Müllebner: Erzählen Sie uns bitte kurz etwas über Ihren persönlichen Weg in die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Volker Schönwiese: Na ja, ich habe in den 70er-Jahren und schon auch in meiner Kindheit viele Dinge erlebt, wo ich gesehen habe, wie viele Einschränkungen rund herum, für mich und für andere existieren.
Und wie ich studiert habe, habe ich dann auch angefangen mich zu wehren. Also das ist/ ich gehöre da zur ersten Gruppe von behinderten Menschen in den 70er-Jahren, die sich dann auch zusammengetan haben und die ersten Aktionen gemacht haben.
Katharina Müllebner: Und wie sah das damals aus? Wie hat man sich untereinander organisiert, hat man sich getroffen, wie war das?
Volker Schönwiese: Ja, in den 70er-Jahren war das relativ gleichzeitig in Wien, in Linz und in Innsbruck, dass sich Gruppen gegründet haben von behinderten Menschen in Verb/ mit ein paar Verbündeten, Sozialarbeitern und anderen Personen und geschaut haben, wie kann man sich eigentlich gegen die Einschränkungen rund herum wehren, Barrierefreiheit, nicht ins Heim zu gehen, gegen die Sonderschulen und so, ja.
Diese Gruppen haben sich ausgehend von Wien, Linz und Innsbruck gegründet und 1980 war das Internationale Jahr der Behinderten und da hat die Bundesregierung eine große Einweihungsfeier in der Hofburg gemacht und da haben wir uns damals vorher getroffen österreichweit und gesagt, das darf wohl nicht wahr sein, die feiern und unsere Rechte sind aber so eingeschränkt und dann haben wir die Hofburg, die Feier, blockiert, eine halbe Stunde und so haben wir uns dann auch österreichweit angefangen regelmäßig zu treffen und abzusprechen.
Katharina Müllebner: Wie setzt sich die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung zusammen, ist das eine Bewegung, die alle Menschen mit Behinderungen umfasst oder gibt es da verschiedene Gruppen?
Volker Schönwiese: Ja, das ist sehr wenig organisiert, das ist so was man nennt Graswurzelbewegung, also da und dort gibt es Einzelpersonen, oder so kleine Gruppen, die merken wir müssen uns wehren und die wehren sich dann.
Und irgendwann fangen sie sich auch an zu treffen und dann gibt es Kooperation oder auch nicht. Und wir machen auch Aktionen, wir gehen auf die Straße, wir blockieren Busse, und so, ja. Aber das ist nicht so rasend doll organisiert, das entsteht immer wieder neu und neue Personen kommen immer wieder.
Das ist unabhängig von der Form der Behinderung. Natürlich gibt es auch blinde Personen, die sich organisieren, Gehörlose, die sich organisieren oder körperlich beeinträchtigte Personen, die sich organisieren, aber Selbstbestimmt Leben hält sich nicht an diese Kategorien.
Selbstbestimmt Leben sind eben eine Graswurzelbewegung. Und haben dann auch/ schon auch eigene Einrichtungen gegründet, Zentren für Selbstbestimmt Leben, das haben sie dann auch begonnen irgendwann.
Katharina Müllebner: Volker Schönwiese hat gerade die Selbstbestimmt-Leben-Zentren erwähnt, sie sind ein wichtiger Bestandteil der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. BIZEPS ist übrigens das erste österreichische Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, wir wurden 1994 gegründet.
Katharina Müllebner: Welche Strategien hatte man, um die Anliegen durchzubringen?
Volker Schönwiese: Also, wenn man jetzt auf die 100 Jahre schaut und auf den Siegfried Braun, den ich schon erwähnt habe, in den 20er- und 30er-Jahren war das hauptsächlich ein Mittel von ihnen, sich selbst zu organisieren, sich gegenseitig zu beraten, also heute nennen wir das Peer-Counseling, das haben die damals schon begonnen, sich gegenseitig zu beraten, zu schauen sich, sage ich mal, mächtiger zu machen, an die Öffentlichkeit zu gehen mit einer Zeitschrift und mit Politikern zu verhandeln. Das haben die damals gemacht und das machen wir heute auch noch immer so ähnlich.
Katharina Müllebner: Wenn Sie sich jetzt an die Zeit erinnern als Sie aktiv waren, wie war die Situation von Menschen mit Behinderungen in Österreich damals ungefähr?
Volker Schönwiese: Na ja, ich bin immer noch aktiv, ja.
Katharina Müllebner: Ja.
Volker Schönwiese: Und in den 70er-Jahren wissen wir das ja auch, dass in den 60er- 70er-Jahren die großen Heime hier immer noch ganz grauenhaft waren. Die sind nach dem Zweiten Weltkrieg ja weitergeführt worden, wie sie in der Zwischenkriegszeit waren und mit dem gleichen Personal aus der Zeit des Nationalsozialismus zum großen Teil und das waren wirklich ganz schlimme Zustände in den Einrichtungen und es hat damals schon auch erste Proteste dagegen gegeben von den jungen Mitarbeiterinnen von Einrichtungen, zum Beispiel in Hartheim oder in Tirol, im Sankt Josefs Institut.
Also der Kampf gegen die Großeinrichtungen, gegen die Asyle, wie der Siegfried Braun in den 20er-Jahren gesagt hat, der war auch wieder in den 70er-Jahren ganz wichtig.
Und dann, wie wir gesehen haben, wir schaffen es nicht die Heime wirklich zu bekämpfen, schauen wir, dass wir eine Alternative aufbauen und um Persönliche Assistenz zu kämpfen. Und haben dann geschaut, dass wir selber Einrichtungen gründen, Zentren für Selbstbestimmt Leben, was im kleinen Maße österreichweit auch gelungen ist, aber wenn man sich schaut, wie viele Heime und Großorganisationen es immer noch gibt, ist das immer noch sehr, sehr klein.
Das ist bis heute, dass wir diesen Wandel nicht geschafft haben umzusetzen. Wir haben es zwar geschafft international die UN-Konvention durchzusetzen als Ziel, aber dass sie umgesetzt wird, da sind wir immer noch mitten im Kampf drinnen.
Eigentlich sind die Ziele, und das ist ja das Spannende, seit 100 Jahren die Gleichen. Klar haben wir vieles auch erreicht, wir haben auch Gesetzesänderungen erreicht, aber es sind alles nur halbherzige Änderungen, ein wirklicher Wandel in Richtung Selbstbestimmung ist nicht gelungen.
Klar, wenn man es zum Beispiel nimmt in den 20er-Jahren hat die Krüppelinitiative erreicht, dass behinderte Menschen das Recht haben bei der Bahn mitzufahren, also Bundesbahn mitzufahren und dass sie/ damals hat es geheißen, man hat das Recht im Gepäckswagen mitzufahren. Und das haben wir heute zwar auch viel besser geregelt, aber optimal ist das trotzdem noch nicht.
Jetzt bei der ÖBB bei bestimmten Zügen zwischen den Hauptstädten geht das schon relativ gut, aber im ländlichen Bereich, na ja. Oder es ist natürlich ein Fortschritt, aber so, dass man sagen kann, wir haben das Recht auf barrierefreie Mobilität, na ja, schon, na ja, aber nicht noch wirklich noch ausreichend.
Und so ist es mit allen Themen, auch bei den ganz wichtigen Themen, nämlich, wer unterstützt uns und das heißt, Persönliche Assistenz, sind wir noch bei Weitem nicht dort, wo wir sein sollten.
Katharina Müllebner: Gibt es irgendeine Protestaktion, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist, weil sie so spektakulär war vielleicht, oder …
Volker Schönwiese: Na ja, wichtig war schon diese Blockade der Hofburg, weil dann die Bundesregierung erstmals uns ernst genommen hat und uns/ mit uns auch gesprochen hat und aus den Vernetzungen heraus dann der Manfred Srb als erster behinderter Mann, ins Parlament eingezogen ist, einer von uns, der unsere Rechte versucht hat zu vertreten.
Und dann der Kampf ums Pflegegeld, wo auch wieder Hungerstreik im Parlament war, um das Pflegegeld durchzusetzen, das war schon eine heftige Demonstration damals.
Katharina Müllebner: Wie lange haben Sie da gestreikt?
Volker Schönwiese: Also damals die Gruppe, die im Parlament gesessen ist, hat, glaube ich, zehn Tage gehungert im Parlament drinnen.
In den zehn Tagen ist viel passiert, da haben ganz viele Zeitungen berichtet und das Parlament und die Regierung haben gemerkt, sie müssen etwas tun. Und die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation hat damals auch eine große Demonstration gemacht, also das war ein Beispiel wie verschiedene Organisationen gut zusammengearbeitet haben und jetzt, sage ich einmal, wir, von Selbstbestimmt Leben, waren aber die, die dann die radikalste Aktion gemacht haben.
Katharina Müllebner: Und wie hat die Bevölkerung und die Politik auf Proteste generell reagiert damals, war da eine gewisse Offenheit da oder eher zurückhaltend?
Volker Schönwiese: Na ja, wenn ich an den Hungerstreik denke, da haben schon viele Zeitungen berichtet und jetzt, sage ich einmal ein bisschen lustig unter Apostroph, die Stimmung ist dann gekippt, wenn die große Möbelfirma dann Betten ins Parlament hineingeliefert hat, die dann damit geworben hat: Wir liefern Betten ins Parlament, damit die Hungerstreiker nicht auf den Bänken liegen müssen. Und das war dann schon irgendwie ein Zeichen, wenn anfangen Möbelfirmen Werbung damit zu machen, dass sie Betten ins Parlament liefern für Hungerstreiken, also dann ist die Öffentlichkeit erreicht worden.
Katharina Müllebner: Wir haben ja jetzt 2020 100 Jahre Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, Sie haben schon öfter erwähnt. Was sind Ihrer Meinung nach die größten Erfolge, die bisher erzielt wurden und wo gibt es noch Nachholbedarf?
Volker Schönwiese: Na ja, einer der größten Erfolge ist sicher, und international gesehen, die UN-Behindertenrechtskonvention, weil es dann erstmal als internationale Übereinkommen es klare Ziele gibt, was heißt denn eigentlich Selbstbestimmt Leben und was müsste man eigentlich dazu tun.
Es ist ein großer Erfolg, dass diese Ziele international anerkannt sind, was aber nicht heißt, dass die Regierungen, die das unterschrieben haben, auch schon tun.
Wir können das ja auf vielen Ebenen sehen, dass genau zu dem Zeitpunkt, wo die Konvention ja anerkannt worden ist, auch durch die österreichische Regierung, viele Interessensgruppen angefangen haben schon existierende Erfolge wieder zurückzudrehen.
Wir sehen das zum Beispiel bei der schulischen Integration oder Inklusion, wo ja in den 90er-Jahren Schritte erreicht worden sind und ab Anfang der Zweitausenderjahre ungefähr ab der Zeit, wo die Konvention auch unterzeichnet worden ist, in Österreich eher Rückschritte gemacht worden sind, weil sich plötzlich Interessensgruppen der Sonderschulen angefangen haben zu wehren und gegen Schulinklusion heftiger aufgetreten sind.
Also der Fortschritt bei den Zielen hat auch Gegenreaktionen erzeugt, wo es dann auch wieder rückwärts gegangen ist.
In den letzten zehn Jahren ist auch in der Barrierefreiheit im Bau in den Bundesländern viel rückwärts gegangen, trotz Konvention. Also wir wehren uns jetzt dann auch wieder immer dagegen und so und es ist zwar ein hin und her, aber es ist ganz schwer zu sagen, wo ist der Fortschritt, der Fortschritt ist eine Schnecke.
Das ist nach dem Zweiten Weltkrieg, kann man sagen, haben wir eine neue Stimmung erreicht und auch eine internationale Konvention und schon viele Fortschritte auch erreicht, nur die Sozialwirtschaft, sprich die ganzen Einrichtungen und alle die Systeme, die mit viel Geld ausgestattet sind, Heime und Werkstätten, wie auch immer, die wehren sich gegen die Änderung, aber die Systeme sind/haben unglaublich viel Geld, mehr Geld als wir uns vorstellen können und werden auch politisch gestützt und wir rennen gegen das immer an und haben große Schwierigkeiten da weiterzukommen.
Katharina Müllebner: Es gibt ja seit 2006 das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz, was ist die Auswirkung dieses Gesetzes für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung?
Volker Schönwiese: Also das ist so eine typische Geschichte, das Gesetz ist ein Fortschritt für uns, es schärft unseren Blick, dass wir auf Ungerechtigkeiten und Diskriminierung hinweisen können, auch in Verhandlung treten können, aber die Möglichkeiten etwas zu ändern sind sehr, sehr beschränkt und wieder fehlt uns so der letzte Kick in Richtung einer Systemänderung vorgehen zu können, also dazu hilft uns dieses Gleichstellungsgesetz nicht.
Katharina Müllebner: Gut, dann hoffen wir, dass diese Geschichte noch lange weitergeht. Vielen, vielen Dank.
Volker Schönwiese: Denke ich auch, die wird ganz sicher weitergehen, wir werden auch wieder Erfolge haben. Dankeschön für die Einladung.
[Überleitungsmusik]Katharina Müllebner: Das war unser kurzer Einblick in die österreichische Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Wenn Sie noch mehr über die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung erfahren wollen, werfen Sie doch einmal einen Blick auf bidok, dort gibt es ein Archiv zur Geschichte der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Österreich. Dieses enthält ausgewählte Dokumente, Zeitschriftenbeiträge sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Auf unserer Internetseite www.barrierefrei-aufgerollt.at finden Sie den entsprechenden Link zum Archiv, sowie weiterführende Informationen zum Thema.
Es verabschiedet sich ihr Redaktionsteam Katharina Müllebner, Markus Ladstätter und Martin Ladstätter.
[Musik mit Text: barrierefrei aufgerollt – kurz, kompakt und leicht verständlich.]
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